Indien: Die Teilung des indischen Subkontinents nach dem Zweiten Weltkrieg

Indien: Die Teilung des indischen Subkontinents nach dem Zweiten Weltkrieg
Indien: Die Teilung des indischen Subkontinents nach dem Zweiten Weltkrieg
 
Die Forderungen nach einer Teilung Britisch-Indiens und der Errichtung eines eigenen Staats für die indischen Muslime waren bereits 1930 artikuliert worden. Der Dichter Muhammad Iqbal hielt damals als Präsident der Muslimliga eine Rede, in der er die Gründung eines autonomen Muslimstaats im Nordwesten Indiens vorschlug. Iqbals Ahnen stammten aus Kaschmir, er selbst war im Pandschab aufgewachsen und diese Herkunft prägte auch seine Sicht der Interessen der indischen Muslime. Um die Muslime in den anderen Teilen Indiens kümmerte er sich nicht. Auch Rahmat Ali, der ebenfalls aus dem Pandschab stammte und 1933 in Cambridge eine ähnliche Forderung publizierte, war an den Muslimen ande rer Provinzen Britisch-Indiens zunächst nicht interessiert. Er schuf das Akronym »Pakistan«, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Provinzen Pandschab (Punjab), Afghanistan (nur das Pathanengebiet der damaligen North West Frontier Province), Kaschmir und Sind und dem Ende des Namens von Belutschistan. Erst als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass er die Bengalen ganz vergessen habe, erfand er zusätzlich den Namen »Bangistan«.
 
Mohammed Ali Jinnah, der spätere Staatsgründer Pakistans, war in den 1930er-Jahren noch gegen diese Pläne und Wortspiele, die er für unverantwortlich hielt. Er, der selbst aus Gujarat stammte und seine Anwaltspraxis in Bombay hatte, vertrat die Muslimdiaspora und kümmerte sich wenig um die Muslim-Mehrheitsprovinzen Pandschab und Bengalen, die von regionalen Parteien regiert wurden. Im Pandschab gab es damals noch die von Hindu- und Muslimgrundbesitzern gemeinsam getragene Unionist Party, die der Muslimliga dort keine Möglichkeit zur politischen Aktivität bot. Außerdem konnte Jinnah sich ausrechnen, dass die Muslimdiaspora, die rund ein Drittel der muslimischen Minderheit Britisch-Indiens ausmachte, von den Plänen Iqbals und Rahmat Alis keine Vorteile, wohl aber beträchtliche Nachteile haben würde. Doch in den Jahren 1931 bis 1934 sah es so aus, als ob Jinnah überhaupt aus dem politischen Leben Indiens ausscheiden und die Führung der indischen Muslime anderen Politikern überlassen wollte. Er kehrte nach den Konferenzen am Runden Tisch nicht nach Indien zurück, sondern eröffnete in London eine Anwaltspraxis und bewarb sich sogar bei der Konservativen Partei um eine Kandidatur für das britische Parlament. Damit hatte er keinen Erfolg und Churchill empfahl ihm, wieder in das politische Leben Indiens einzusteigen, wo gemäß der Verfassungsreform von 1935 (Government of India Act) Provinziallandtage gewählt werden mussten. Jinnah glaubte, bei diesen Wahlen leichtes Spiel zu haben, wenn er das Wahlprogramm des Indischen Nationalkongresses (INC) kopierte und darauf vertraute, dass die Muslime in ihren separaten Wählerschaften für die Muslimliga stimmen würden. Wäre diese Rechnung aufgegangen, hätte er einen idealen Koalitionspartner für den INC abgegeben. Zu seinem Pech stimmten viele Muslime aber für muslimische Kongresskandidaten und der INC hatte in den Hindu-Mehrheitsprovinzen auf diese Weise so gute Wahlergebnisse, dass er keinen Koalitionspartner brauchte. Von seiner Muslimdiaspora enttäuscht, wandte Jinnah sich nun den Mehrheitsprovinzen zu. Da diese von ihren eigenen Politikern beherrscht wurden, konnte er nur dann eine Führungsrolle spielen, wenn er sich Rahmat Alis Pläne zu Eigen machte. In der Sitzung der Muslimliga in Lahore im Frühjahr 1940 ließ er daher die »Pakistan-Resolution« verabschieden. Der Name Pakistan kam in der Resolution zwar nicht vor, aber die Errichtung autonomer Muslimstaaten im Westen und Osten Indiens wurde deutlich gefordert. Zur Unterstützung dieser Forderung verkündete Jinnah seine »Zweinationentheorie«, der zufolge Hindus und Muslime zwei Nationen seien — und zwar nach jeder Definition des Begriffs Nation, wie er betonte, um sich nicht mit weiteren Einzelheiten beschäftigen zu müssen.
 
 Indien im Zweiten Weltkrieg — Politischer Wandel
 
Im Zweiten Weltkrieg änderten sich die politischen Bedingungen für Indien grundlegend. Der INC gab die Provinzialregierungen zu Kriegsbeginn wieder auf und versagte den Briten die Unterstützung im Krieg. Diese weigerten sich nämlich, ihre Kriegsziele zu definieren und stellten schließlich sogar ausdrücklich fest, dass die Atlantikcharta, die allen Völkern die Freiheit versprach, für Indien nicht gelten sollte. Zugleich wurde aber durch den Krieg eine wichtige Vorbedingung für die Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit geschaffen: Indien wurde vom Schuldner zum Gläubiger Großbritanniens. Das Argument, dass die Kolonialherrschaft erhalten bleiben müsse, um Indien als Schuldner im Griff zu behalten, galt nun nicht mehr. Indiens Industrieproduktion wurde für den Kriegsbedarf abgeschöpft, der Gegenwert Indien bei der Bank von England gutgeschrieben. Hätte Indien dieses Guthaben sofort nach Kriegsende beansprucht, wäre Großbritannien bankrott gewesen; deshalb musste Indien noch kurz vor Gewährung der Unabhängigkeit ein Moratorium unterzeichnen. Unter diesen Umständen waren beide Seiten an einer einvernehmlichen Machtübertragung interessiert.
 
Während die Kongressführer die Zeit nach 1942 im Gefängnis verbrachten, weil ihnen die »Quit-India«-Resolution, in der Großbritannien zum sofortigen Verlassen Indiens aufgefordert wurde, und die »Augustrevolution« zur Last gelegt wurden, war Jinnah von den Briten geradezu hofiert worden. Sie wollten die Teilung Indiens nicht, aber indem sie Jinnahs Position stärkten, trugen sie dazu bei, dass dessen Forderungen immer kompromissloser vorgetragen wurden. Churchill unterstützte Jinnah nach wie vor, weil er in ihm und seiner Muslimliga ein Gegengewicht zum Nationalkongress sah. Churchills Wahlniederlage im Sommer 1945 war daher ein schwerer Schlag für Jinnah. Doch die neue Regierung der Labour Party, die ihren Sieg nicht erwartet hatte, zeigte sich in Bezug auf Indien völlig ratlos. Sie hätte die Chance gehabt, in einer deutlichen Regierungserklärung einen Stufenplan für die Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit vorzulegen, tat aber nichts dergleichen. Statt dessen wurden zunächst einmal Neuwahlen zu den Provinziallandtagen abgehalten. Nun sind Wahlen, bei denen der Wähler völlig im Unklaren darüber bleibt, was eigentlich zur Entscheidung ansteht, ein sehr gefährliches Unternehmen. In Ermangelung einer Regierungserklärung konnte Jinnah im Wahlkampf allerlei Behauptungen aufstellen, die den Muslimen den Eindruck vermittelten, Pakistan werde überall dort sein, wo Muslime lebten. Vizekönig Lord Wavell, der diese Wahlen organisieren musste und außerdem das Problem zu lösen hatte, wie er die rund zwei Millionen Mann starke britisch-indische Armee, die an allen Fronten für die Briten gekämpft hatte, ohne Unterstützung durch eine nationale Regierung demobilisieren sollte, wandte sich verzweifelt an den Indienminister in London um Hilfe. Wenn man schon keine Regierungserklärung abgeben wolle, so solle man doch wenigstens den alten parlamentarischen Trick anwenden und einen Abgeordneten im Parlament spezifische Fragen stellen lassen, die dann der Indienminister verbindlich beantworten könne. Dieser aber antwortete, er wolle das lieber nicht tun, weil dann im Parlament auch noch viele andere Fragen gestellt würden, die er nicht beantworten könne. Die Hilflosigkeit der Labourregierung zeigte sich hier sehr deutlich.
 
Der Wahlsieg der Muslimliga 1946
 
Das Wahlresultat fiel eindeutig zugunsten Jinnahs aus. Was er 1937 erhofft hatte, um sich dann dem INC als Koalitionspartner anzubieten, trat nun ein: Die Muslime in ihren separaten Wählerschaften gaben mit großer Mehrheit den Kandidaten der Muslimliga ihre Stimmen. Doch diesmal war Jinnah nicht an einer Koalition mit dem INC interessiert, sondern deutete seinen Wahlerfolg als ein Votum für Pakistan. Er hütete sich aber weiterhin, die Grenzen Pakistans zu definieren oder gar eine Volksabstimmung zu verlangen. Er setzte darauf, dass ihm Pakistan im Rahmen eines Verwaltungsakts der scheidenden Briten zugestanden würde. Ferner wusste er, dass der INC und die britische Regierung an einer einvernehmlichen Machtübergabe interessiert waren, und machte in den Verhandlungen geschickt von seinem Vetorecht Gebrauch.
 
Nachdem der verzweifelte Vizekönig einen Rückzugsplan der britischen Truppen aus Indien nach London gesandt hatte, wachte dort die Regierung endlich auf, gab aber immer noch keine Regierungserklärung ab, sondern entsandte im März 1946 drei Kabinettsminister nach Indien, die mit dem INC und der Muslimliga über Verfassungskonstruktionen verhandeln sollten, wobei sie eine Teilung auf Provinzebene und den Erhalt der Einheit auf der Bundesebene anstrebten. Das ganze Unternehmen war nutzlos, denn ohne Regierungserklärung verfügten die Minister über keine Sanktionen, mit denen sie ihre Vorschläge hätten durchsetzen können.
 
Die Minister kamen und gingen und der Vizekönig hatte immer noch keine nationale Regierung, mit der er die dringend anstehenden Aufgaben bewältigen konnte. Schließlich ernannte er im August 1946 Jawaharlal Nehru zum Interims-Premierminister und beauftragte ihn mit der Bildung einer Regierung. Jinnah protestierte und kündigte einen »Tag der direkten Aktion« für den 16. August an. Jinnah war nie auf irgendwelche Barrikaden gegangen, und so verstrich dieser Tag fast überall in Indien ohne Aktionen. Nur in Kalkutta nutzte der bengalische Ministerpräsident Shahid Suhrawardy, ein Muslim, diesen Tag, um einen Massenmord anzustiften. Er ließ den Tag zum Feiertag erklären, holte Muslime von außerhalb der Stadt nach Kalkutta und hetzte sie auf die vielen Hindu-Arbeiter aus Bihar, die in den Slums lebten und prompt in ihre Heimat flüchteten. Suhrawardy hoffte auf diese Weise das demographische Gleichgewicht Kalkuttas zugunsten der Muslime zu verschieben, damit die Stadt Pakistan zugeschlagen und damit vermutlich Hauptstadt des neuen Staates werden würde. Das gelang nicht, aber viele Menschen kamen ums Leben und sowohl in Bengalen als auch in Bihar wurde Zwietracht zwischen Hindus und Muslimen gesät.
 
Da der »Tag der direkten Aktion« Nehrus Regierung nicht zu Fall gebracht hatte, konnte Jinnah nicht umhin, nun doch noch mit der Muslimliga der Regierung beizutreten. Er selbst wollte nicht die zweite Geige in Nehrus Regierung spielen und entsandte nur einige seiner Mitarbeiter in das Kabinett. Dort musste zumindest ein »klassisches« Ministerium freigemacht werden, und so erhielt Liakat Ali Khan, später Premierminister Pakistans, das Finanzministerium. Die Kongressminister mussten bald feststellen, dass sie keinen Pfennig ohne die Erlaubnis des Finanzministers ausgeben konnten. Jinnah konnte also seine bewährte Vetopolitik nun mit diesem Mittel fortsetzen. Schließlich beantragte Nehru die Entlassung der Minister der Muslimliga. Nun war Lord Wavell, den die Regierung in London stets im Stich gelassen hatte, am Ende und musste abgelöst werden.
 
 Teilung Indiens
 
Premierminister Clement Attlee, der Nachfolger Churchills, ernannte nun Lord Louis Mountbatten zum Vizekönig und stattete ihn mit Vollmachten aus, die kein Vizekönig vor ihm gehabt hatte. Mountbatten forderte Attlee auch eine verbindliche Regierungserklärung ab, ohne die er nicht bereit war, nach Indien zu gehen. Als Cousin des Königs und gerade ruhmreich aus dem Krieg zurückgekehrter Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte im Pazifik konnte Mountbatten fordern, was er wollte. Er hätte es eigentlich vorgezogen, seine Karriere in der Kriegsmarine fortzusetzen, denn es war sein Lebensziel, Erster Seelord zu werden. Sein Vater, Prinz Ludwig Alexander von Battenberg, hatte diesen Posten zu Beginn des Ersten Weltkriegs innegehabt, musste ihn aber wegen seiner deutschen Herkunft aufgeben; für seinen Sohn war es eine Frage der Familienehre gewesen, nun seinerseits diesen Posten zu erreichen. Die Entsendung als (letzter) Vizekönig nach Indien war jedoch keine Stufe auf der Karriereleiter, sondern eher ein Abstieg. Kritiker haben denn auch behauptet, Mountbatten habe die Teilung übers Knie gebrochen, um schnell zur Marine zurückkehren zu können. Doch damit taten sie ihm wohl Unrecht. Freilich hat er selbst einmal gesagt, dass er ein langsameres Tempo gewählt hätte, wenn er gewusst hätte, dass Jinnah im September 1948 sterben würde. Mountbatten hasste Jinnah und sah in ihm seinen ärgsten Widersacher, während ihn mit Nehru bald eine herzliche Freundschaft verband. Aber als er im März 1947 sein Amt in Indien antrat, hatte Mountbatten offenbar das Gefühl, dass nur die Flucht nach vorn den Briten eine geordnete Machtübergabe ermöglichen konnte und dabei eine rasche Teilung Indiens unvermeidlich war.
 
Ursprünglich sah die Regierungserklärung eine Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit zum August 1948 vor, doch auf Mountbattens Vorschlag wurde der Termin um ein Jahr vorverlegt. Er konnte dann ein unerbittliches Tempo vorlegen, das es seinen Verhandlungspartnern gar nicht mehr erlaubte, Atem zu holen und irgendwelchen Protest zu artikulieren. Er gewann dabei sogar die Unterstützung Gandhis, der die Teilung eine »Vivisektion« Indiens nannte und sich ihr widersetzte. Mountbatten sagte zu Gandhi, er habe alles getan, um seine Forderung nach einer baldigen Unabhängigkeit zu erfüllen, leider sei dies aber nur um den Preis der Teilung möglich. Der Teilungsplan hatte intern den Codenamen »Plan Balkan« und war von den Fachleuten der britischen Regierung konsequent weiterentwickelt worden, was Mountbatten gar nicht bemerkte, weil er von Verfassungsfragen nichts verstand. Er war deshalb überrascht, dass Nehru sehr heftig reagierte, als er ihm diesen Plan zeigte — obwohl er das gar nicht hätte tun sollen. Die Herren in London hatten es für eine elegante Lösung gehalten, nicht Britisch-Indien insgesamt oder irgendwelchen neu zu gründenden Teilstaaten die Unabhängigkeit zu gewähren, sondern den bestehenden Provinzen Britisch-Indiens, die dann ihrerseits sehen mochten, zu welchen Bundesstaaten sie sich nach ihrem Ermessen zusammenschließen wollten. Das hätte unter Umständen eine totale Balkanisierung bedeutet. Nehru überzeugte Mountbatten davon, dass es so nicht ging. Damit mussten aber die scheidenden Briten nun doch die Verantwortung für die Vivisektion übernehmen und einen entsprechenden Plan vorlegen.
 
Jinnah hatte gehofft, die gesamten Provinzen Bengalen und Pandschab für Pakistan beanspruchen zu können. Sie enthielten aber viele Distrikte, und zwar in Westbengalen und im östlichen Pandschab, in denen die Hindus in der Mehrheit waren. Mountbatten konnte Jinnah dessen »Zweinationentheorie« vorhalten und auf einer Teilung nach Distrikten bestehen. Jinnah nannte dies selbst ein »mottenzerfressenes Pakistan«, erklärte sich aber schließlich bereit, die Teilung von einem von ihm zu benennenden britischen Richter in diesem Sinne vornehmen zu lassen. Mountbatten hielt das Ergebnis des richterlichen Schiedsspruchs bis zum Unabhängigkeitstag unter Verschluss. Er hoffte wohl, dass die Vivisektion unter Narkose schmerzlos verlaufen und der Patient sich nach dem Erwachen an seinen neuen Zustand gewöhnen würde. Doch darin täuschte sich Mountbatten. Der blutige Bruderzwist, der der Teilung folgte, wurde durch diese Taktik umso heftiger.
 
Die Folgen der Teilung
 
Mahatma Gandhi hatte das drohende Unheil geahnt. Er war den Feierlichkeiten in Delhi ferngeblieben und nach Kalkutta geeilt, wo ihn Shahid Suhrawardy willkommen hieß. Dieser war schon nicht mehr Ministerpräsident Bengalens und fürchtete wohl, dass die Hindus in dem bei Indien verbliebenen Kalkutta bittere Rache für das Blutbad nehmen würden, das er ein Jahr zuvor dort angezettelt hatte. Gandhi zwang Suhrawardy dazu, gemeinsam mit ihm durch die Straßen zu ziehen und in einem Quartier inmitten der Elendsviertel gemeinsam mit ihm zu wohnen. Dort wurden sie auch bald von radikalen Hindus belagert. Suhrawardy gestand öffentlich seine Schuld an dem Blutbad ein und bat um Vergebung. Gandhi gelang es, die Gewalt im Keim zu ersticken, und Kalkutta blieb wider Erwarten ruhig. Dafür kam es im Pandschab, wo Gandhi nicht gleichzeitig sein konnte, zu blutigen Ausschreitungen.
 
Gandhi eilte dann nach Westen, doch kam er nur bis Delhi, das inzwischen von Flüchtlingsströmen aus dem Pandschab überschwemmt war und im Chaos zu versinken drohte. Es bestand die Gefahr, dass die aus dem Pandschab geflohenen Hindus und Sikhs an den Muslimen in Delhi Rache nehmen würden. Gandhi besuchte die Muslime und beschwor sie, nicht ihrerseits die Flucht zu ergreifen und in Delhi zu bleiben, wo man sie schützen werde. Die Unklarheit, die bis zum Tag der Unabhängigkeit über die Art und Weise der Teilung herrschte, hatte Angst und Unsicherheit erzeugt, die dann bei vielen Betroffenen in Hass umschlug. Besonders die Sikhs des Pandschabs waren außer sich vor Zorn. Die neue Grenze führte mitten durch ihre Siedlungsgebiete. Sie hatten einen Großteil der Soldaten gestellt, die für die Briten in beiden Weltkriegen gekämpft hatten, und fühlten sich nun von den Briten verraten. Flüchtlingszüge, die in beide Richtungen fuhren, wurden von der jeweils anderen Seite angegriffen. Hunderttausende fanden den Tod.
 
 Kaschmir: Der Kampf um Kaschmir und Gandhis Tod
 
Der Bruderzwist erreichte bald eine weitere Dimension, als die Kämpfe um Kaschmir ausbrachen. Die Bevölkerung Kaschmirs bestand mehrheitlich aus Muslimen, der Maharadscha war ein Hindu. Die Fürstenstaaten gehörten staatsrechtlich nicht zu Britisch-Indien, sondern wurden je für sich in die Unabhängigkeit entlassen — jedoch mit Mountbattens dringendem Rat, sich umgehend einem der Nachfolgestaaten anzuschließen. Bei der Teilung war der Bezirk Gurdaspur im Pandschab, der die einzige Landverbindung zwischen Indien und Kaschmir darstellte, Indien zugesprochen worden, sonst hätte Kaschmir nur mit Pakistan eine gemeinsame Grenze gehabt. Der Maharadscha zögerte seine Entscheidung hinaus, bis Freischärler von Pakistan aus nach Kaschmir einmarschierten, um ihm die Bedenkzeit abzukürzen. Darauf bat er Indien um Militärhilfe. Auf Mountbattens Rat gewährte Nehru ihm diese erst, nachdem der Maharadscha sich zum Anschluss an Indien entschlossen hatte. Mit einer Luftbrücke wurden indische Truppen nach Kaschmir gebracht und standen dort bald auch regulären Einheiten der pakistanischen Armee gegenüber. Der unerklärte Krieg dauerte geraume Zeit an. Nehru hatte die UNO angerufen, damit diese die Aggression verurteilen und den Aggressor zum Rückzug auffordern sollte. Das tat die UNO nicht, vielmehr beschäftigte sie sich sofort mit einer politischen Lösung. Dabei versteifte man sich auf das von Nehru zur Zeit des Anschlusses gegebene Versprechen einer späteren Volksabstimmung. Da die Teilung nicht aufgrund von Volksabstimmungen stattgefunden hatte, wäre dies die erste Abstimmung darüber gewesen, ob indische Muslime lieber in Pakistan leben oder in Indien verbleiben wollten. Es ging dabei letztlich um ein »Ja« oder »Nein« zur Zweinationentheorie. Indien hatte sich zwar mit der Teilung abgefunden, durfte aber die Zweinationentheorie auf keinen Fall akzeptieren, weil 1947 noch rund 40 Millionen Muslime in Indien verblieben waren. Bei strikter Anwendung der Theorie hätte man sie ausweisen müssen und dies hätte zu einem sofortigen Zusammenbruch Pakistans geführt.
 
Inmitten dieser Auseinandersetzungen bestand Mahatma Gandhi auf der gerechten Teilung der britisch-indischen Staatskasse. Der mächtige Innenminister Indiens, Vallabhbhai Patel, weigerte sich, den Anteil, der Pakistan zustand, auszuzahlen. Gandhi begann aus diesem Anlass sein letztes großes Fasten, Patel gab schließlich nach. Aber ein radikaler junger Hindu, der diesen Einsatz Gandhis als Hochverrat ansah, erschoss ihn am 30. Januar 1948. Das Geld wurde ausgezahlt. Inzwischen gingen die Kämpfe weiter und wurden erst 1949 durch einen von der UNO vermittelten Waffenstillstand beendet. Die Waffenstillstandslinie ist seitdem die De-facto-Grenze zwischen Indien und Pakistan.
 
Bis heute nicht verheilt: Die Wunde der Teilung
 
Pakistan unternahm schließlich den Versuch, Kaschmir mit Gewalt zu erobern. Solange Nehru noch lebte, wagte man es nicht, Indien anzugreifen. Doch vor seinem vermeintlich schwachen Nachfolger Lal Bahadur Schastri fürchtete man sich nicht. Präsident Mohammed Ayub Khan versuchte im September 1965 mit der »Operation Grand Slam« durch einen Panzerangriff auf die einzige Straßenverbindung Kaschmir von Indien abzuschneiden. Schastri ließ im Gegenzug die indischen Truppen auf Lahore zumarschieren. China, seit 1963 mit Pakistan verbündet, eröffnete keine zweite Front im Osten und enttäuschte so den Partner. Beim Waffenstillstand hielten indische Truppen mehrere Abschnitte pakistanischen Territoriums besetzt. Die Sowjetunion schaltete sich als Vermittler ein. Ayub Khan musste eine Gewaltverzichtserklärung unterschreiben, um den Abzug der indischen Truppen zu bewirken. Dieser »Gesichtsverlust« zog die Autonomieforderungen Ostpakistans nach sich, die Pakistan nicht gewaltsam unterdrücken konnte. Zur Abspaltung Bangladeshs kam es im Dezember 1971 ebenfalls nach einem blutigen Bruderzwist, diesmal standen Muslime gegen Muslime. Die »Zweinationentheorie« wurde so 1971 endgültig ad absurdum geführt. Doch die Wunden der Teilung waren damit immer noch nicht geheilt.
 
 Die Innen- und Außenpolitik Indiens und Pakistans
 
Die Innen- und Außenpolitik beider Staaten ist durch die Teilung und ihre Folgen mit Hypotheken belastet, die sich nicht abtragen lassen. Pakistan wurde zu Indiens »Gegenstaat«, es orientierte sich in jeder Hinsicht im negativen Sinne an Indien. Manches beruhte dabei auf bewussten Entscheidungen, anderes aber auf zwangsläufigen Weichenstellungen. Eine solche Weichenstellung war es, dass sich Jinnah für den Posten des Generalgouverneurs von Pakistan bereithielt, während Nehru Premierminister Indiens wurde. Jinnah musste, um seinen neuen Staat in den Griff zu bekommen, das vizekönigliche Erbe antreten. Er entschied sich damit aber für eine Art Präsidialsystem und gab dem Parlamentarismus in Pakistan keine Chance, während Nehru als Premierminister den indischen Parlamentarismus auf eine gute Grundlage stellte. Freilich gab es in Indien die Kongresspartei als Vermächtnis des Freiheitskampfes, während die Muslimliga in Pakistan bald verfiel. Sie hatte sich nie am Freiheitskampf beteiligt und Jinnah hatte sie zu einer Organisation von Befehlsempfängern degradiert. Er stützte sich auf die Bürokratie und das Militär, die nach seinem Tod zu den tragenden Säulen des pakistanischen Staates wurden.
 
Außenpolitisch suchte Pakistan Sicherheit im amerikanischen Paktsystem, dem es sich 1954 anschloss. Am Ziel dieses Paktsystems, wie es die Amerikaner sahen, war Pakistan eigentlich nicht interessiert. Es sah darin nur eine Absicherung gegen Indien. Dieses wiederum hatte sich unter Nehru von vornherein der Bündnisfreiheit verschrieben und hielt auch an ihr fest, wurde aber durch das Engagement Pakistans dazu gezwungen, sich der Sowjetunion zuzuwenden und letztlich auch rüstungspolitisch von ihr abhängig zu werden. Schließlich wurde die Festlegung ihrer Positionen durch den Kalten Krieg für beide Staaten zu einem Orientierungsrahmen, an den sie sich so sehr gewöhnt hatten, dass sie nach dem Ende des Kalten Krieges nicht recht wussten, wie sie nun ihre Stellung in der Welt und zueinander neu bestimmen sollten. Es kam hinzu, dass die Innenpolitik beider Staaten um diese Zeit in eine Phase der Labilität geriet. In Pakistan gelang es nicht, die Rückkehr zur Demokratie auf Dauer zu stabilisieren, und in Indien führten seit 1989 alle Wahlen auf Bundesebene stets zur Bildung von Minderheitsregierungen, die es dem Staat nicht erlaubten, ein starkes außenpolitisches Profil zu zeigen. Nun sollte man meinen, dass dies Pakistan durchaus genehm sein könnte. Doch das Gegenteil ist der Fall: Pakistan braucht ein stabiles und berechenbares Indien, an dem es sich orientieren kann. Es ist eine Paradoxie der Teilung, dass die Brüder gerade wegen ihres Zwists nach wie vor aufeinander angewiesen sind.
 
Prof. Dr. Dietmar Rothermund
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Indien: Gandhis Einsatz im indischen Freiheitskampf
 
 
Brass, Paul R.: The politics of India since Independence. Cambridge u. a. 21995.
 Rothermund, Dietmar: Delhi, 15. August 1947: Das Ende kolonialer Herrschaft. München 1998.
 Wolpert, Stanley: Jinnah of Pakistan. New York u. a. 1984.

Universal-Lexikon. 2012.

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